Die Hochhausspringerin | Julia von Lucadou | Hanser Berlin | Juli 2018 | 288 Seiten
»Er sieht mich an, als sei die Kritik auf mich persönlich bezogen. Sein Blick ist eindringlich. Ich bin es nicht mehr gewohnt, jemandem direkt in die Augen zu sehen, ohne Monitor«
– S.156
Ein erschreckend realistisches Szenario
In einer nicht allzu fernen Zukunft lebt Riva, die Hochhausspringerin in einer schönen grossen Wohnung zusammen mit ihrem Partner Aston. Riva ist ein Superstar in der Szene und gilt als perfekte Sportlerin. Mit schier unmenschlicher Präzision springt sie von den höchsten Gebäuden, streckt und schraubt sich in die Luft, zeigt tollkühne Figuren, um im richtigen Augenblick den Flysuite™ zu aktivieren und sicher zu landen.
Doch von einem Tag auf den anderen verweigert sie sich, geht nicht mehr zu Training und sitzt nur noch teilnahmslos auf dem Boden. Ihre Fans spekulieren in den Sozialen Medien, Gerüchte um Depression, Gefangenschaft oder Trennung machen die Runde. Die Sponsoren befürchten jedoch hohe Geldeinbussen und Vertragsbruch. Darum muss auch eine Psychologin her, die dieses Problem beheben soll.
Hitomi ist fleissig und ambitioniert. Sie soll Riva wieder dazu bewegen zum Training zu gehen und ihr Leben in der Öffentlichkeit zu leben. Allerdings ohne, dass Riva etwas davon merkt. Vor ihrem Computerbildschirm analysiert Hitomi nun Rivas Leben, unzählige Kameras bieten ihr dazu den nötigen Einblick. Denn Riva hat sich ihre Wohnung und ihren Status nur aufgrund ihrer Leistungen erarbeitet und somit kein Recht auf Privatsphäre mehr. Die Geldgeber haben alles im Auge und absolute Kontrolle.
Julia von Lucadou malt in ihrer Dystopie ein erschreckend realistisches Bild einer zukünftigen Gesellschaft. Der Leistungsgedanke wird dabei absolut auf die Spitze getrieben, denn in dieser Welt hängt wirklich alles von der eigenen Leistung ab – Credits, Wohnort, Aufenthaltserlaubnis. Mal einen schlechten Tag haben oder faul auf dem Sofa hängen liegen da nicht mehr drin. Stattdessen wird alles über Kameras überwacht, die Menschen können jederzeit über Handy und Tablets geortet werden. Fitness- und Activity-Tracker liefern zudem Daten zu den Schlaf- und Essgewohnheiten, ob die täglichen Mindfulness-Übungen absolviert und das Mindestmass an Bewegung eingehalten wurde.
Nicht nur, dass hier die beinahe totale Überwachung des Menschen stattfindet, jeder einzelne ist zudem darum bemüht, sich selbst und seine Leistung zu optimieren. Denn damit verbunden sind Privilegien – höhere Credits, schönere Wohnungen, bessere Jobs.
Hier hält Julia von Lucadou uns ganz schön den Spiegel vor, Selbstoptimierung ist auch heute schon ein Schlagwort. Man schiebt noch schnell eine Achtsamkeitsmeditation in den vollen Terminkalender rein – nicht weil man es wirklich will, sondern weil man sich davon einen Vorteil verspricht. Die vielen Fitness- und Lifestylaccounts in den Sozialen Medien spriessen nicht ohne Grund aus dem Boden. Oder Krankenkassen die mit speziellen Gesundheitsapps Vorteile versprechen.
»Macht es dich nicht wütend, dass wir nichts selbst entscheiden können?«
»Sie versuchen ja nur, unser Potenzial zu erkennen und uns zu fördern. Du kannst ja immer noch nein sagen.«
»Wen kennst du, der schon mal nein gesagt hat?«
– S.84
Nicht nur die dystopische Welt war spannend zu betrachten, auch die zwei Protagonistinnen boten interessante Gegensätze und Denkanstösse.
Riva, die alles hat, was man sich in dieser Realität wünschen kann – Erfolg, exklusiven Wohnraum, viele Privilegien, eine intake Beziehung – und ohne ersichtlichen Grund alles hinschmeisst, ihren Status riskiert, um etwas zu suchen, von dem sie nicht einmal selbst genau weiss, was es ist.
Und Hitomi, die junge aufstrebende Psychologin, die sich ihre Credits noch erarbeiten muss und dafür zwei Jobs gleichzeitig erledigt und Angst hat, alles wieder zu verlieren. Sie soll nun Riva wieder dazu bringen, zu funktionieren, ihre Aufgaben zu erfüllen. Gelingt dies nicht, bedeutet dies für beide Frauen den sozialen Abstieg, denn Leistung ist alles was zählt.
Was auf der Strecke bleibt
Es scheint nur allzu klar, dass bei diesem Gesellschaftssystem so einiges auf der Strecke bleibt. Familie zum Beispiel, Zusammenhalt und Zuneigung. Dass sich erste Risse in der Gesellschaft bilden, dass vieles ungerecht ist und sich Widerstand gegen das System formt, erschliesst sich dem*der Leser*in erst nach und nach.
Familie gilt beispielsweise als überholtes Konzept, dass nur hinderlich ist in einer Welt, in der alles auf Leistung und Erfolg beruht. So werden Kinder von speziellen Brüterinnen geboren und in Childcare-Instituten grossgezogen. Allerdings boomen Mamabots, die Stadtmenschen lesen begierig Familienblogs aus den Peripherien oder buchen sich stundenweise Geschwister. Selbstverständlich werden auch diese Aktivitäten genaustens überwacht. Aber aller Überwachung zum Trotz bleibt das Innerste im Menschen immer ein Rätsel.
»Das bin nicht ich.
Ich bin das Mädchen im Childcare-Institut, das sich nicht nur an die Regeln hält, sondern an sie glaubt.
Lassen Sie das Chaos zu, Frau Yoshida.
Ich möchte das Chaos nicht zulassen. Ich möchte, dass mein Leben sich in klaren Bahnen nach vorne bewegt, die ich mir mit harter Arbeit geebnet habe.«
– S. 254
Fazit
Julia von Lucadous Debüt Die Hochhausspringerin ist ein spannender dystopischer Roman, der uns in eine Welt entführt, in der Leistung und Erfolg alles sind, was zählt. So erschafft sie eine Zukunftsvision, die erschreckend realistisch daher kommt und uns in einigen Punkten gar den Spiegel vorhält. Wie weit möchten wir gehen, wie wichtig sind Leistung und Erfolg? Und wollen wir wirklich eine Gesellschaft, eine perfekte Welt, in der kein Platz mehr ist für Individualität und jemanden, der nicht so funktioniert, wie es vorgesehen ist?
Ein absolutes Lesehighlight für mich!
Weitere Meinungen
»Für mich ist „Die Hochhausspringerin“ ein gelungenes dystopisches Debüt, das auf ein hochaktuelles Thema setzt und ein schleichendes, unausweichlich wirkendes Zerbrechen schildert, das der Leser hautnah miterlebt.« – Buchsichten
»Ein aussergewöhnliches Buch über erschreckend glaubwürdige Zukunft hat Julia von Lucadou hier verfasst.« – Herzpotential
»Ein wirklich starkes Debüt, das mich sehr beeindruckt hat. Julia von Lucadou erschafft eine Zukunftsversion unserer Gesellschaft, bei der es mich schaudern lässt, die aber gleichzeitig erschreckend realistisch erscheint.« – Leselust
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6 Antworten zu “Rezension | Die Hochhausspringerin – eine Welt, in der kein Platz ist für Fehler”
Eine großartige Rezension, liebe Daniela!
Ich finde es ziemlich erschreckend, dass die beschriebenen Aspekte zur Selbstoptimierung schon heute eine Rolle im Alltag vieler Menschen spielen. Apps, die zur Bewegung aufrufen neben Apps, die deinen Schlaf überwachen und dir am Morgen erzählen, wann du dich im Tiefschlaf befandest und dass du schon seit mehreren Tagen nur 5 Stunden pro Nacht schläfst – vor 15 Jahren noch Dystopie, heute Realität. Und wer diese Infos bekommt, das will ich eigentlich gar nicht so genau wissen. Danke für diesen tollen Buchtipp, das landet direkt auf meiner Wunschliste.
Liebste Grüße,
Ida
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Ja, das hat mich auch wirklich erschüttert! Das vieles eigentlich gar nicht mehr dystopisch ist, sondern bereits Einzug in unseren Alltag gehalten hat. Wenn man sich das mal vor Augen führt, bekommt Datenschutz eine ganz neue Bedeutung :)
Grüessli, Daniela
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Wirklich schöne Rezension! Ich hab mir den Roman auf jeden Fall notiert. Das gesamte Konzept interessiert mich unheimlich, weil es alles andere als unrealistisch ist. c:
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Ich danke dir! Und freue mich natürlich, wenn das Buch auch bei dir zu hause landet und gefällt. :)
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Liebe Daniela,
wow, eine tolle Rezension für ein tolles Buch!
Mir hat dieser Titel ebenfalls wichtige Aspekte im Optimierungs- und Überwachungswahn eröffnet. In einem Radiointerview sieht sich von Lucadou in der Tradition von Margaret Atwood bzw. sie ist von Atwood sehr inspiriert. Was mich, eben weil ich „Die Hochhausspringerin“ so großartig finde, auf Atwood bringt und ich sollte da vielleicht endlich eine Leselücke schließen.
Auf die kommenden Titel dieser Autorin bin ich sehr gespannt, denn ich glaube, da ist thematisch wirklich etwas zu erwarten.
Liebe Grüße,
Bettina
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Vielen Dank, liebe Bettina!
Ja, in Sachen Atwood habe ich also auch noch eine Leselücke und das obwohl eines ihrer Bücher schon länger in meinem Regal steht.
Das Szenario in „Die Hochhausspringerin“ ist wirklich gar nicht so fern, vielleicht hat es darum auch umso mehr berührt und an uns gerüttelt.
Grüessli, Daniela
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