Ein wenig Leben | Hanya Yanagihara | aus dem Englischen von Stephan Kleiner | Januar 2017 | Hanser Literaturverlag | 960 Seiten
»Aber in einem Punkt hatte sie recht gehabt: Es wurde tatsächlich immer schwieriger und schwieriger. Er gab sich tatsächlich selbst die Schuld. Und obwohl er Tag für Tag versuchte, sich auf das Versprechen zu besinnen, das er ihr gegeben hatte, rückte es Tag für Tag weiter in die Ferne, was schliesslich nur noch eine Erinnerung, sie wie sie nur noch eine Erinnerung war, eine geliebte Figur aus einem Buch, das er vor langer Zeit gelesen hatte.«
Ein wenig Leben, S. 148
Wie bespricht man ein Buch, über das es so viel zu sagen gibt, dafür die richtig Worte zu finden, aber unendlich schwer ist? Beginne ich mit den Dingen, die ich mochte, oder lieber mit dem, was mich störte? Denn auch wenn Ein wenig Leben eines meiner Jahreshighlights ist, sehe ich einige Dinge kritisch.
Vielleicht ist es darum gar nicht schlecht, ganz vorne zu beginnen und den Inhalt einmal etwas genauer anzusehen.
Diese Rezension ist nicht ganz spoilerfrei. Zudem geht es an einigen Stellen um Themen wie sexueller Missbrauch, selbstverletzendes Verhalten oder Selbstmord. Wer keine bösen Überraschungen erleben möchte, springt am besten gleich zum Fazit vor.
Vier Freunde und ganz viel Leid
Inhaltlich geht es um die Lebensgeschichte von vier Freunden. Willem Ragnarsson, Malcolm Irvine, Jean-Baptiste »JB« Marion und Jude St. Francis kennen sich seit dem College und sind bei allen Differenzen und Unterschieden eng miteinander verbunden. Und irgendwie hat jeder sein Päckchen zu tragen. Willem sagt sich nach dem Tod seines mehrfachbehinderten Bruders von seinen gefühlskalten Eltern los, Malcom steht stets im Schatten seines Vaters und JB muss lernen, dass es Erfolg nicht umsonst gibt. Das alles wird in den ersten Kapiteln ziemlich zügig erzählt, bevor sich die Geschichte dem eigentlichen Protagonisten Jude widmet.
Jude’s Leben scheint von Beginn weg verpfuscht, als Findelkind zwischen Mülltonnen entdeckt, verbringt er seine Kindheit im Kloster und in Heimen. Er wurde geschlagen, missbraucht, in einem Keller gefangen gehalten und zur Prostitution gezwungen. Über die Hölle seiner Kindheit und Jugend spricht er nie, möchte am liebsten alles verschliessen und vergessen. Was ihm nur schwer gelingt. Immer wieder kreisen ihn seine Erinnerungen wie Hyänen ein und dann gibt es nur einen Ausweg für ihn: sich zu schneiden.
Diese Stellen schmerzen beim Lesen, nicht nur weil uns Leser und Leserinnen bewusst wird, wie tief die seelischen Verletzungen von Jude wohl sein mögen, sondern weil sie uns eben auch vor Augen führen, welche Erleichterung er durch sein selbstverletzendes Verhalten erfährt. Jude selbst beschreibt es als etwas, das ihn reinigt und alles Giftige und Verdorbene aus ihm raus spült. Seine zerschnittenen und vernarbten Arme sind daher für mich ein äusseres Zeichen seiner inneren Verletzungen.
»Und schliesslich kommt ein Abend, an dem er weiss, dass seine Anstrengungen nicht länger ausreichen werden: Er muss sich schneiden, tief und ausgiebig. Die Hyänen stimmen ein Geheul an, ein schrilles Jaulen, das klingt, als stamme es von einem anderen Wesen in ihrem Innern, und er weiss, das nur der Schmerz sie verstummen lassen wird.«
Ein wenig Leben, S.673
So verfolgen wir über 900 Seiten lang, wie Jude und seine Freunde versuchen ein wenig zu Leben. Die Geschichte ist eine emotionale Berg- und Talfahrt, es gibt Höhen, Tiefen und unzählige Schicksalsschläge aber auch ganz viel Liebe, Freundschaft und Hilfsbereitschaft.
Es hat mich berührt, von wie viel bedingungsloser Liebe und Hilfsbereitschaft Jude umgeben ist. Nicht nur seine engsten Freunde sind für ihn da, auch sein Jura-Professor Harold oder sein Arzt Andy setzten sich für ihn ein – weit über ihre beruflichen Verpflichtungen hinaus. Gleichzeitig stellte sich mir mit dieser Hilfsbereitschaft aber auch immer die Frage von deren Grenze. Wie weit darf man in seinen Bemühungen gehen, eine andere Person am Leben zu erhalten? Darf man das überhaupt, liegt das überhaupt in unserer Macht?
Das grosse Plus: die Sprache und die Figuren
Was mich an diesem Roman besonders fasziniert hat, ist seine Sprache, das intelligente darin, aber auch das pathetische, überbordende. Von der ersten Seite an wurde ich in eine Welt voller Gegensätze und Bilder hinein gezogen. Missbrauchsszenen werden in sanften, ruhigen Worten geschildert, während in einem drin alles schreit. Die Erinnerungen sind Hyänen, die Jude umkreisen. Und über allem steht dieser ruhige, intelligente Schreibstil – teilweise pathetisch und überbordend, dann wieder angenehm zurückhaltend – der mich einlullte und dessen Sog ich mich nicht entziehen konnte. Auch auf den ersten 300 Seiten, die eigentlich nur Vorgeplänkel sind, trug mich diese Erzählweise über manche Länge hinweg.
»Seine Freundschaft zu Jude, so kam es ihm manchmal vor, beruhte zum großen Teil darauf, dass er sich nicht die Fragen stellte, die er sich eigentlich hätte stellen sollen, weil er sich vor den Antworten fürchtete.«
Ein wenig Leben, S.100
Aber auch die Figuren machen dieses Buch zu etwas ganz besonderem – kein Wunder begleiten wir sie doch ein ganzes Menschenleben lang. Zusammen mit ihnen gehe ich durch Höhen und Tiefen, sehe ihre Ecken und Kanten, möchte sie schütteln und zur Besinnung bringen, wenn sie einen Fehler machen und freue mich ab den schönen Dingen, die ihnen widerfahren. So wurden sie für mich zu Menschen aus Fleisch und Blut, zu Freunden, die ich ein Stück auf ihrem Weg begleite. Schon lange gab es kein Buch mehr, dass mich bis in meine Träume begleitete, das mich emotional auslaugte und wo ich mir selbst auszudenken versuchte, wie die Geschichte wohl endet. (So viel sei gesagt, ich lag mit all meinen Varianten fürchterlich daneben.)
Allerdings brachten Jude, Willem, JB und Malcom mich auch an meine Grenzen, so viel Unglück und Leid, so viele Schicksalsschläge – manchmal war ich kurz davor, das Buch zu zu klappen und ins Regal zu stellen. Wie viel vermag ein Mensch und vermögen die Leser und Leserinnen zu ertragen?
Doch nicht alles ist Gold was glänzt
Auch wenn mich das Buch begeistern konnte und wohl eines meiner All-time-favourites werden wird, sehe ich einige Dinge auch kritisch.
So sehr ich die vier Freund in mein Herz geschlossen habe, so überzeichnet und fern von jeder Lebensrealität fand ich ihre Lebenswege. Alle vier sind am Ende maximal erfolgreich, maximal reich, da gibt es kein Mittelmass, kein Misserfolg, keine Abwärtsbewegung auf der Karriereleiter, alle sind Superstars in ihrem Metier. Das wirkt so fern von unserer Lebensrealität, als würden sie in einem luftleeren Raum schweben. Ich meine, in welcher Realität ist es so, dass ein so stark traumatisierter und verletzter Mensch wie Jude, der nie regelmässig zur Schule ging und emotionale Unterstützung erfahren hat ein gefeierter Staranwalt, ein ausserordentlich talentierter Pianist oder ein Fünf-Sterne-Koch wird?
Das Buch ist eigentlich eine einzige Übertreibung, ins Positive wie auch ins Negative. Die Guten quellen über vor Liebe, Fürsorglichkeit und Hilfsbereitschaft, während die Bösen so grausam gezeichnet werden, dass es manchmal nur schwer zu ertragen ist. Da hätte ich mir etwas mehr Zwischentöne gewünscht, wie auch schon bei den überzeichneten Lebenswegen.
Und wenn wir schon dabei sind, eine zeitliche und historische Einordnung wäre ab und an auch nicht schlecht gewesen. Historische Ereignisse oder tagesaktuelle Geschehnisse finden überhaupt keine Erwähnung, was den Eindruck des luftleeren Raums noch verstärkt.
»Wir brauchten mehrere Tage, um ihn zu lesen, denn obwohl er nicht lang war, war er zugleich endlos, und wir mussten immer wieder die Seiten niederlegen und uns von ihnen entfernen, um uns dann gegenseitig zu wappnen – Bist du bereit? – uns hinzusetzen und ein weiteres Stück zu lesen.«
Ein wenig Leben, S.956
Fazit
Auch wenn ich einige Aspekte des Buches durchaus kritisch betrachte, so ist Ein wenig Leben doch ein absolutes Lesehighlight für mich. Ein gutes Buch zeichnet sich halt eben nicht nur dadurch aus, das es uneingeschränkt gefällt, sondern vielmehr auch durch seine Fähigkeit etwas im Leser/in der Leserin auszulösen. Ein gutes Buch darf unangenehm sein, darf einem an Grenzen bringen und darüber hinaus. Und genau das hat Ein wenig Leben mit mir gemacht, es hat mich mitgerissen, aufgewühlt, mir Bauchschmerzen bereitet und mich bis in meine Träume begleitet. Im Guten wie im Schlechten.
Ja, Ein wenig Leben handelt von schweren Themen, von Missbrauch, Gewalt und schweren psychischen Traumata. Immer wieder ist da aber auch ganz viel Liebe, Freundschaft und Hilfsbereitschaft, was einem für die beim Lesen durchlittenen Qualen entschädigt. Darum gibt es von mir eine Leseempfehlung für dieses epochale Werk.
Weitere Meinungen
»Leider hat Hanya Yanagihara mit „Ein wenig Leben“ ein Buch geschrieben, das meiner Meinung nach aus den falschen Gründen bewegt.« – Samtpfote mit Krallen
»Es ist ein Buch voller Leid, Liebe und Wahrhaftigkeit. Es ist eine Geschichte, die einen nicht unberührt und vor Schmerz innerlich aufschreien lässt.« – Zeit für neue Genres
»Trotz alledem finde ich den Roman wichtig, klug und lesenswert. Die Übersetzung ist toll […] und man hat wirklich viel von diesem Buch, wenn man sich denn darauf einlässt. Aber man darf es sich auch echt erlauben, mal ein paar Seiten nur querzulesen, weil manchmal so gar nichts Neues mehr passiert.« – Schiefgelesen
»Ein Buch, über das man sprechen möchte, Stunde um Stunde.« – Pinkfish
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10 Antworten zu “Rezension | Ein wenig Leben – oder wenn dich ein Buch an deine Grenzen bringt”
Ich hab das Buch nach dem ersten Viertel abgebrochen, mir war es einfach zu überspitzt, zu manipulativ. Ich kann die Begeisterung für das Buch wirklich nicht nachvollziehen, aber vielleicht muss ich es in einigen Jahren nochmal versuchen. Manchmal leist man ein Buch ja auch einfach zur falschen Zeit.
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Ich verstehe das total! Ich habe viele Meinungen dazu gelesen und da waren nicht wenige dabei, die genau das am Buch kritisierten. Und btw habe ich das Buch ja mit Livia zusammen gelesen und sie ist auch nicht so hell auf begeistert, wie ich das bin.
Und abgesehen davon habe ich mich ja auch in einem gewissen Masse an dieser Überspitzung gestört, allerdings wohl nicht so sehr wie andere.
Ja, probiere es in ein paar Jahren noch einmal, vielleicht liest du es dann mit anderen Augen. Vielleicht ist es aber auch einfach nicht dein Buch. :)
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Ich antworte da auch gleich einmal, mir ging es nämlich ähnlich. Trotzdem habe ich es durchgezogen und doch noch einige Qualitäten entdeckt. Du kannst ja auch bei uns in den Leserundenbeiträgen stöbern, dort findest du unsere Diskussionen ;-)
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Idealisiert ist es nur ein wenig Leben, doch sicherlich stellen die idealisierten Endzustände das Potenzial von selbst den geschädigsten Seelen dar. Jedenfalls auf den Gesellschaftlichen Stellenwert bezogen. Letztendlich kann jegliche Zeit eine unerträgliche Qual sein, ob es nun objektiv so zu sein scheint oder der Schmerz subjektiv ist.
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Ehrlich gesagt verstehe ich jetzt nicht so ganz was du mir sagen willst… Natürlich ist Schmerz und Qual genauso wie auch Glück subjektiv und von der Erfahrungs- und Lebensrealität eines jeden abhängig.
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Ist mir nur in den Sinn gekommen. Super Review!
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Hallo liebe Daniela
Nun melde ich mich auch noch bei dir und mir gefällt deine Rezension sehr gut, mit allen negativen und positiven Aspekten. Unsere Meinungen gehen an einigen Punkten natürlich auseinander, aber ich verstehe, dass jede Person dieses Buch einfach ganz anders liest und das muss wohl so sein bei dieser eher extremen Themen.
Ich kann aber wirklich nicht nachvollziehen, wie sehr dieses Buch von einigen aufgrund der blossen Schilderungen von Gewalt und Qual gehyped und als „mutig“ und „aussergewöhnlich“ bezeichnet wird (zumal die wirklich noch schlecht und vor allem nicht zu Ende gedacht erzählt wird), das kann doch jeder, also wirklich. Ich habe sehr viele schöne Momente, Formulierungen und vor allem eine tolle Recherchearbeit entdeckt und hätte mir wirklich mehr Kritiken, Lob und generell Meinungen dazu gewünscht. Verstehst du, was ich meine?
Vielen Dank dir auf jeden Fall noch einmal für dieses – wenn auch manchmal zähe -Experiment und beim nächsten Mal lesen wir einen schnulzigen Wohlfühlroman zusammen, damit wir uns einfach wieder gut fühlen :-)
Alles Liebe dir
Livia
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Ach herrjemine! Habe ich dir wirklich nie auf deinen Kommentar geantwortet? Das tut mir jetzt aber Leid…
Ich möchte mich auch nachträglich noch einmal bei dir bedanken, dass du diese Leserunde mit mir gestartet hast. Das war genau der Stubs, den ich gebraucht habe, um das Buch endlich in Angriff zu nehmen. Und ich fand es auch gar nicht schlecht, hatten wir beide so eine unterschiedliche Sicht auf die Dinge, das bereichert das eigene Lesen nämlich ungemein. :)
Lass mich wissen, wenn du wieder einmal eine Leserunde startest (z.Bsp. zu „Kafka am Strand“) :)
Grüessli, Daniela
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[…] USA: Daniela (Livricieux) mit Ein wenig Leben von Hanya […]
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[…] war eine wirklich witzige Lektüre für Zwischendurch. Tja, und dann habe ich im August auch Ein wenig Leben von Hanya Yanagihara beendet. Ein Buch, das polarisiert, entweder liebt man es, oder man hasst es. […]
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