Rezension | Heimweh – ein Coming out auf irisch

»Sie war auf den Beerdigungen gewesen und hatte gesehen, wie echte Trauer aussah, aber nur, weil die anderen mehr verloren hatte, bedeute das ja nicht, dass sie gar nichts verloren hatte.«

– S. 33

Heimweh | Graham Norton | aus dem Englischen von Silke Jellinghaus und Katharina Naumann | Oktober 2021 | Rowohlt Verlag | 384 Seiten

Graham Norton mausert sich so langsam zu einem meiner Lieblingsautoren. Schon sein erster Roman Ein irischer Dorfpolizist konnte mich mit seiner Wärme und den liebevoll gezeichneten Figuren begeistern. Und auch Eine irische Familiengeschichte überraschte mit psychologischer Tiefe und dem ein oder anderen Plottwist. Kein Wunder also, dass ich mir auch Heimweh auf den eReader laden musste. Und ganz zuverlässig hat mich die Geschichte um die Bewohner der Kleinstadt Mullinmore auch aus einem Lesetief gezogen. 

Ein verhängnisvoller Tag

Ein Sommertag Ende der Achtziger, sechs junge Leute fahren ans Meer. Auf dem Rückweg ein schrecklicher Unfall: Es sterben ein junges Paar, das am nächsten Tag hätte heiraten sollen, und eine Brautjungfer; die andere überlebt schwer verletzt. Kaum blessiert sind Martin, der Arztsohn, und Connor, der eigentlich nicht zur Clique gehörte. Er sass am Steuer.
Der ganze Ort Mullinmore ist wie gelähmt. Es kommt zu einer Gerichtsverhandlung infolge derer, Connor für einen Neuanfang nach England geschickt wird. Allerdings weiss niemand in Mullinmore, dass Connor noch vor etwas ganz anderem flieht.

Der Beginn des Romans handelt von den dramatischen Ereignissen rund um den Unfall, der nicht nur Connors Leben für immer verändern sollte. Im Rahmen der Gerichtsverhandlung wird Connor für schuldig befunden und zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Zudem ist die gesellschaftliche Ächtung für ihn und seine gesamte Familie immens. Also wird er, nachdem er das Zimmer für eine lange Zeit nicht mehr verlassen hat, nach England geschickt, um auf einer Baustelle zu arbeiten. Diese Schiffsfahrt ist der Beginn einer viel längeren Reise des jungen Mannes, eine Reise auf der Suche nach sich selbst.

Facettenreiche Protagonisten

Unbestreitbar eine Stärke aller Romane Graham Nortons sind die vielseitigen Protagonisten. So geht einem Connors Schicksal vor allem deshalb Nahe, weil er so nahbar und menschlich gezeichnet wird. All seine Ängste und Selbstzweifel sind spür- und nachvollziehbar. Immer wieder wird in den Kapiteln deutlich, wie verletzlich und von Unsicherheiten beherrscht Connor doch eigentlich ist. Natürlich wird da auch seine Homosexualität immer wieder zum Thema und wie er mit sich selbst und seiner Vergangenheit ins Reine kommen muss.
Aber auch die Nebencharaktere werden aufs feinste ausgearbeitet. So beeindruckte mich vor allem Connors Schwester Ellen. Man versteht ihre Seite der Geschichte, sieht, wie sie unter der Ächtung ihrer Familie leidet und ihr Martin wie ihr persönlicher, grosse Retter vorkommt. Wie sich später herausstellt ist er alles andere als das. Diese Ehe steht für mich dann auch als Sinnbild für all die Traurigkeit und Einsamkeit, die man in dieser Institution erfahren kann. Umso eindrücklicher ist Ellens Weg zur Freiheit.

»Anscheinend war es vor allem wichtig zu entscheiden, wessen Unglück sich leichter ertragen ließ. Und das war ihr eigenes.«

– S.99

Vorhersehbare Handlung

So facettenreich die Protagonisten sind, so vorhersehbar ist die Story. Irgendwie war mir von Beginn an klar, was an diesem verhängnisvollen Sommertag wirklich geschehen ist. Und man muss auch nicht Hercule Poirot sein, um herauszufinden, was Martin zu verbergen versucht. Heimweh glänzt weder mit nervenaufreibender Spannung, noch mit zu Tränen rührender Dramatik. Vielmehr erzählt es eine, nein gar zwei Lebensgeschichten, in denen sich wahrscheinlich ganz viele homosexuelle Menschen wieder finden. Und das finde ich wunderbar. So sollte Literatur sein. Allerdings haben beide Geschichten übertriebene Dramatik eben auch nicht nötig, da sie halt einfach vom Leben inspiriert sind.

Fazit

Heimweh zeichnet ein lebhaftes Bild einer irischen Kleinstadt und deren Bewohner*innen. Es geht um Themen wie die Ehe und das Familienleben, aber auch um Homosexualität und wie dieses Thema im erzkatholischen Irland der 80er Jahre behandelt wurde. Vor allem aber geht es um junge Menschen, die sich trotz schwieriger Umstände versuchen zu entfalten und ihre eigene Persönlichkeit zu finden. Manchen gelingt es eher, andere brauchen ein wenig länger, aber unterkriegen lässt sich keiner.
Und so ist Heimweh nicht nur die Verarbeitung einer Lebensgeschichte, sondern auch ein grosses Plädoyer dafür, sich selbst und andere so anzunehmen und wert zu schätzen, wie sie sind.

Weitere Meinungen

»Eine vielschichtige, tiefgründige und auch nachdenkliche Geschichte!«Literaturwerkstatt Kreativ Blog

»„Heimweh“ von Graham Norton ist ein Bild von einer irischen Kleinstadt und dessen Menschen, die sich im Verlauf der Jahrzehnte weiterentwickeln, oder eben stehen bleiben und auf alte Werte verharren und sich dabei selbst verraten. Dabei geht es neben dem Ehe- und Familienleben auch um das Thema Homosexualität und wie dieses im katholischen Irland in den 80er und 90er verarbeitet wurde, sondern auch darum, wie man sich trotz dieser Umstände entfalten kann. Das Graham Norton dabei eigene Erfahrungen eingewoben gibt dem Buch aus meiner Sicht eine ganz besondere Note.«Piglet and her Books

»In Summe ist der Roman also die mit zauberhaften Figuren ausgestattete Suche eines jungen Mannes nach Identität und seinem Platz im Leben und davon ausgehend ein zutiefst menschliches Plädoyer dafür, sich selbst – und andere – eben so zu nehmen wie man ist und einen entsprechenden Umgang abseits jeglicher Vorbehalte und Vorurteile miteinander zu pflegen.« – Reisswolfblog


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6 Antworten zu “Rezension | Heimweh – ein Coming out auf irisch”

  1. Hallo liebe Daniela

    Das klingt spannend, wenn auch – vor allem mit dem Unfall am Anfang – ziemlich heftig.
    Irland passt ja aber immer für mich :-) Ich werde mir das Buch auf jeden Fall einmal näher ansehen.

    Alles Liebe und danke für die aussagekräftige Rezension
    Livia

    Gefällt 1 Person

  2. Das klingt wirklich nicht uninteressant, zumal gut geschriebener Charakteraufbau für mich häufig ein gutes Buch ausmacht. Da muss nicht unbedingt die Welt passieren oder alles ganz verworren und/oder undurchsichtig sein. Werde den Autor auf jeden Fall mal im Blick behalten, danke für die Rezension :)

    Gefällt 1 Person

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