Rezension | Die Geschichte des verlorenen Kindes – was lange währt…

»Ich war ich, und gerade deshalb konnte ich ihr Raum in mir gewähren und ihr eine dauerhafte Form geben. Sie dagegen wollte nicht sie sein, und so konnte sie nicht das Gleiche tun.«
– S. 479-480

Elena Ferrante | Die Geschichte des verlorenen Kindes | aus dem Italienischen von Karin Krieger | Februar 2018 | Suhrkamp | 614 Seiten

Was lange währt, wird endlich gut. Oder so ähnlich. Die Neapolitanische Saga ist wahrlich ein Phänomen, dem auch ich mich nicht gänzlich entziehen konnte. Mit Die Geschichte des verlorenen Kindes habe ich nun auch den vierten und letzten Band gelesen. Und glaubt mir, wenn ich sage, dass nicht nur Lila und Elena ihre Kämpfe zu fechten hatten.

*** Für alle, die die ersten drei Bände der Neapolitanischen Saga nicht gelesen haben, kann die folgende Rezension Spoiler enthalten ***

Emanzipation und Mutterrolle

Inhaltlich setzt der vierte und letzte Teil der Neapolitanischen Sage wirklich unmittelbar an den Cliffhanger aus Band 3 an. Elena ist ihrem Herzen gefolgt, was ihr ganzes Leben über den Haufen wirft. Elena_Ferrante_3Mit ihrer Jugendliebe Nino lebt sie mal hier, mal da und reisst so auch ihre Töchter aus deren gewohntem Umfeld in Florenz. Als sie sich schliesslich erneut in Neapel niederlässt, blickt sie auch so langsam hinter die unstete Fassade ihres Freundes und durchschaut seine Spielchen.
Lila ist zeitlebens im Rione geblieben, wo sie sich ihren Weg hart und laut erkämpft hat. Sie ist nun erfolgreiche Unternehmerin einer Computerfirma und mischt damit die Camorra und die Gebrüder Solara gehörig auf. Die zwei Brüder stehen nicht minder für ein traditionelles Weltbild, unterdrückte Frauen, Gewalt und Skrupellosigkeit, als Lila ihnen eine ebenbürtige Gegnerin ist.
Elenas Kämpfe hingegen sind still und leise, aber nicht minder wichtig. Sie stellt sich zum Beispiel der Frage, wie sie sich selbst verwirklichen kann, ohne dass ihre Töchter zu kurz kommen. Und wie kann sie sich in ihrer Rolle als Mutter, Autorin und Geliebten selbst treu bleiben?
Diese Gedanken bringt Elena in ihrer gewohnt sachlichen Erzählweise zu Papier und wird so zu einer viel beachteten Stimme des Feminismus in Italien. Nur ihren eigenen Idealen genügt sie manchmal nicht.

»Machte ich mir etwas vor, wenn ich mich frei und unabhängig gab? Und machte ich meinem Publikum etwas vor, wenn ich als eine auftrat, die mit ihren zwei kleinen Büchern jeder Frau helfen wollte, sich das einzugestehen, was sie sich selbst nicht sagen konnte?«
-S.138

Diese besondere Freundschaft

Und wie auch schon in den voran gegangenen Teilen, spielt auch hier die Freundschaft der beiden Frauen, ihre Unterschiedlichkeit und ihr Wettstreit eine grosse Rolle. Spätestens seit dem dritten Band ist klar, dass sich Elena und Lila brauchen, dass es zwar zusammen nicht immer einfach ist, ohne einander aber noch viel schlimmer.
Gleichzeitig gibt es in dieser Freundschaft aber auch Höhen und Tiefen, es darf kritisiert und gestritten werden. So hält diese Beziehung wesentlich mehr aus als so manche Schönwetterfreundschaft. Eine echte Freundschaft ist eben nicht immer nur Unzertrennlichkeit und Freude und man muss sich auch nicht täglich sehen, um sich einander Gewiss zu sein. Denn das Leben geht viele Wege und manchmal werden auch Freunde für eine längere Zeit getrennt.
Trotzdem hat man während der Lektüre immer wieder das Gefühl, die Beziehung der beiden Frauen bleibt zerbrechlich und ist geprägt von Machtspielchen und Konkurrenzkämpfen, die mitunter nur schwer auszuhalten sind.

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Das ALLES erzählen wollen

Was für mich persönlich dieses Buch aber zu einem Kampf werden liess, war nicht die mitunter anstrengende Freundschaft oder die offene Gewalt, sondern der Anspruch einfach alles erzählen zu wollen. So hatte ich manches Mal das Gefühl in einer Zeitschleife fest zu stecken. Besonders wenn Elena wieder und wieder über ihre Zweifel an Nino, an ihrem Buch, ihrem Erfolg sprach oder sich über ihre Rolle als Mutter oder Autorin unklar war, wollte ich ihr oftmals einen Schubs geben, dann doch endlich etwas an ihrer Situation zu ändern. Aber vielleicht hält uns da Elena Ferrante auch einfach einen Spiegel vor. Denn wie oft drehen auch wir uns im Kreis und finden keinen Ausweg (oder wollen ihn vielleicht auch nicht finden, weil es so doch irgendwie bequemer ist).
Am spannendsten und lebendigsten empfand ich die Geschichte aber in jenen Teilen, die die Ereignisse wie im Zeitraffer erzählen. In diesen Passagen werden nämlich auch die zwingenden Mechanismen der Beziehungen klar – Lila konnte nur so handeln, worauf Elena wiederum nur auf eine Art reagieren konnte und der Rione würde immer der Rione bleiben.

Fazit

Das Buch ist so, wie es nun einmal ist und dafür lieben (oder hassen) wir es. Persönlich bin ich froh, habe ich die vier Bände durchgekaut, auch wenn mich der letzte nicht mehr so zu fesseln vermochte. Lese-TippAllerdings rundet er die Saga ab und darauf wollte ich nur schon aus Prinzip nicht verzichten.
Wer die ersten drei Bände der Neapolitanischen Saga also gelesen hat, dem lege ich auch den vierten Band wärmstens ans Herz. Alle anderen sollten sich unbedingt an Band 1 halten und dann selbst entscheiden, wie es für sie mit Lila und Elena weiter gehen soll.

 

Weitere Meinungen

»Zu Beginn des ersten Bandes von Elena Ferrantes Neapolitanischen Saga hätte ich niemals gedacht, dass ich alle vier Bände der Reihe lesen würde.« – Frau Hemingway

»So kunstvoll die Autorin auch schreibt und so klug viele der Gedanken der Figuren auch sind, mir konnte dieser Band nichts geben und es stellte sich bei mir nicht die Faszination ein, die die ersten beiden Bände für mich ausgemacht hat.« – Miss Naseweis

»Wie in den vorangegangenen Bänden  fesseln Inhalt und Stil gleichermaßen. Mit ihrer süffigen und doch geistreichen Prosa, kombiniert mit exakten Charakterdarstellungen und historischen Informationen, breitet Elena Ferrante ein überbordendes und spektakuläres Panorama Italiens am Beispiel Neapels in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus. Außerdem gehört die „Neapolitanische Saga“ zweifellos zu den schönsten und mitreißendsten Freundschaftsromanen der Literaturgeschichte. Ein himmlisches Lesevergnügen.« – Sounds and Books

Die Reihe

Meine geniale Freundin | Die Geschichte eines neuen Namens | Die Geschichte der getrennten Wege | Die Geschichte des verlorenen Kindes


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9 Antworten zu “Rezension | Die Geschichte des verlorenen Kindes – was lange währt…”

  1. Eine tolle Rezension! Gerade weil ich Band 4 absolut verschlungen habe und mich von Anfang an die Geschichte von der beiden Frauen gefesselt hat, fand ich jetzt auch deine kritischen Argumente sehr spannend. Auf jeden Fall ist es ein echter Kraftakt, die Saga durchzulesen, oder? Am Ende hat man wirklich das Gefühl, (fast) ein ganzes Leben begleitet zu haben. :)

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  2. Ich habe nach dem ersten Band nicht weitergemacht. Aber ich lese total gern, wie andere die Reihe empfanden. Spannend, wie unterschiedlich die Leute reagieren. Das habe ich so glaube ich noch nie bei einem Werk empfunden.

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  3. […] noch lesen soll… Endlich beenden konnte ich im April Wellensang von Anna Eichenbach und Die Geschichte des verlorenen Kindes von Elena Ferrante. An beiden Bücher sass ich schon länger, seit letztem Jahr um genau zu sein. […]

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