Rezension | Elena Ferrante – Die Geschichte der getrennten Wege

Die Geschichte der getrennten Wege | Elena Ferrante | aus dem Italienischen von Karin Krieger | August 2017 | Suhrkamp | 540 Seiten

 

»Ich hatte mich ihr zugerechnet, und ich fühlte mich verstümmelt, sobald ich mich ihr entzog. Nicht ein Einfall ohne Lila. Nicht ein Gedanke, auf den ich ohne den Rückhalt ihrer Gedanken vertraute. Nicht ein Bild. Ich musste mich ausserhalb von ihr akzeptieren.«
– aus „Die Geschichte der getrennten Wege“ S.360-361 

Die Neapolitanische Saga von Elena Ferrante ist ohne Zweifel ein Phänomen und begeistert Millionen von Leserinnen und Lesern um den ganzen Erdball. Die Bücher über die zwei so unterschiedlichen Freundinnen und auch über ein ganzes Stück Weltgeschichte werden wohl auch in Zukunft noch so einige Menschen begeistern können.
Auch ich konnte mich ab einem gewissen Punkt dem „Ferrante-Fever“ nicht mehr entziehen und so stehen die vier Bände schön in Reih und Glied bei mir im Bücherregal. Die Geschichte der getrennten Wege ist nun der dritte Teil und knüpft nahtlos an die vorangegangenen Bände an.

*** Für alle, die die ersten beiden Bände der Neapolitanischen Saga nicht gelesen haben, kann die folgende Rezension Spoiler enthalten ***

Unterschiedliche Lebenswege

Der dritte Band beginnt mit der Veröffentlichung von Elenas erstem Buch und zeigt die Erfolge, die sie damit feiert. Währenddessen schuftet Lila in einer Wurstfabrik und kümmert sich um ihren kleinen Sohn. Lila bleibt auch in einer schäbigen Mietwohnung in Neapel zurück, während Elena nach ihrer Hochzeit mit Pietro nicht nur nach Florenz zieht, sondern auch in eine angesehene Familie einheiratet und in ein neues gesellschaftliches Milieu gerät. Das Band zwischen den beiden Freundinnen scheint immer dünner zu werden und auch die Ferrante_3Herausforderungen des Alltags und die Zerwürfnisse innerhalb der Familien scheinen die beiden Freundinnen voneinander zu entfernen.

Elenas Debütroman verkauft sich gut und bekommt auch begeisterte Kritiken. Dennoch bleiben auch negative Stimmen nicht aus und gar von skandalösen Szenen ist die Rede. Das alles setzt Elena sehr zu, gleichzeitig warten alle sehnlichst auf ihr zweites Buch. Als dann ihre erste Tochter zu Welt kommt, wachsen ihr die Aufgaben beinahe über den Kopf. Von ihrem Mann kommt keine Hilfe, da sich dieser ja seiner wissenschaftlichen Arbeit zu widmen hat. Elena verkümmert zusehends, emotional wie auch intellektuell. Elenas Ehemann ist nicht gewalttätig, so wie es Stefano Caracci war, aber doch engt er sie mit seiner Ignoranz und seinem Egoismus ein.

»Eine Gemeinschaft, die es normal findet, so viel weibliche Intelligenz mit der Sorge um Kinder und Haushalt zu ersticken, schadet sich selbst und merkt es nicht mal.«
– aus „Die Geschichte der getrennten Wege“, S. 465

Elenas Probleme bekommt Lila nur am Rande mit. Sie schuftet bis zur Erschöpfung in der Wurstfabrik von Bruno Soccavo und muss sich nicht nur gegen anzügliche Bemerkungen ihrer Arbeitskollegen, sondern auch gegen jene des Chefs zur Wehr setzen. Privat kümmert sie sich um ihren Sohn und lernt mit Enzo, ihrem loyalen Freund die Programmiersprache. Als sie eines Abends in revolutionären Kreisen von ihrem Arbeitsalltag berichtet, überschlagen sich die Ereignisse und eine Welle von Gewalt wird losgetreten.

Politische Umwälzungen und Feminismus

Denn ja, dieses Buch ist noch weit mehr als seine Vorgänger in der politischen Zeitgeschichte Italiens verankert. Und auch unsere Protagonistinnen sind aktiver am Geschehen beteiligt als noch in den beiden Bänden zuvor.
Die Geschichte der getrennten Wege spielt sich in den 70er Jahren in Italien ab, es ist die Zeit der Studentenunruhen, dem Konflikt zwischen Faschisten und Kommunisten (Brigate Rosse) und einer aufkeimenden Frauenrechtsbewegung. Dieser gesellschaftliche Umbruch ist als Hintergrund zur Geschichte von Lila und Elena zu betrachten und beide sind in ihrem jeweiligen Umfeld darin involviert.

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Elena engagiert sich auf der intellektuellen Ebene und konzentriert sich später auf feministische Fragen. Lila dagegen kämpft beinahe an vorderster Front in der Wurstfabrik und sammelt Informationen für die Kommunisten. Auch im Rione wird der Umgangston immer härter und der Kampf zwischen Rechten und Linken fordert Opfer auf beiden Seiten. Diese unerbittliche Gewalt verleiht dem ganzen dritten Band eine gewisse Düsternis und Ernsthaftigkeit.

Elena beginnt gar ihre Rolle als Ehefrau und Mutter zu hinterfragen und liest feministische Schriften und Pamplete. Sie begibt sich dabei auf sie Suche nach ihrer persönlichen Freiheit und ihrem Lebensweg und versucht alte Strukturen aufzubrechen und ihre Rolle zu verändern und daraus auszubrechen. Ist sie doch sowohl Hausfrau und Mutter als auch eine erfolgreiche Romanautorin, die endlich ihr zweites Buch schreiben möchte.

»Letztlich kam ich zu dem Schluss, dass ich vor allem besser verstehen musste, wer ich war. Meine weibliche Natur erforschen. Ich hatte es übertrieben, hatte mich gezwungen, mir männliche Fähigkeiten anzueignen. Ich glaubte alles wissen zu müssen, mich um alles kümmern zu müssen.«
– aus „Die Geschichte der getrennten Wege“ S. 360

Getrennt und doch verbunden

Lila und Elena haben zwei grundsätzlich verschiedene Lebenswege eingeschlagen und dennoch bleiben sie verbunden und dies hat nicht zuletzt mit ihrer Herkunft zu tun. Beide verbrachten ihre Kindheit im Rione von Neapel und wurden von dessen Sitten, der Sprache und dem Benehmen geprägt. Lila lebt gar wieder in diesem Viertel und ist und bleibt ein Teil davon.
Ferrante_2Für Elena steht der Rione aber auch für alles, was sie hinter sich lassen wollte, was sie nicht mehr will und folglich versucht sie sich möglichst von ihren alten Angewohnheiten zu lösen. Das bringt ihr aber viel Unsicherheit und Selbstzweifel ein und oft erscheint sie wie ein Fähnchen im Wind, dass sich je nach Lob oder Kritik mal in die eine, mal in die andere Richtung dreht.
Die zwei Freundinnen sind sich also fremd geworden und doch auch irgendwie verbunden geblieben. Elena steht für Lila für ein Leben, dass sie nie erreicht hat. Und Lila ist für Elena alles, was sie nicht ist, selbstbestimmt und selbstsicher.

»Ich hatte nur deshalb etwas werden wollen – und das war der springende Punkt –, weil ich Angst hatte, Lila könnte sonst etwas werden, und ich würde hinter ihr zurück bleiben.«
– aus “ Die Geschichte der getrennten Wege“ S. 445

Fazit

Auch Die Geschichte der getrennten Wege, der dritte Teil der neapolitanischen Saga bietet packende Unterhaltung auf hohem Niveau und entführt den/die Leser*in ins Italien der 70er Jahre.Lese-Tipp Neben dem italienischen Flair, dass die beiden ersten Bände noch so gekennzeichnet hat, bietet die Fortsetzung nun noch etwas mehr Politik und Gesellschaftsentwicklung und es ist absolut glaubhaft, wie Lila und Elena in diesem Milieu agieren.
Auch wenn Die Geschichte der getrennten Wege über weite Teile ein gemächliches Erzähltempo anschlägt, so gewinnt die Geschichte zum Ende hin doch noch an Fahrt und ich bin schon gespannt, wie das Leben von Elena und Lila im vierten und letzten Band weiter gehen wird.

Weitere Meinungen

»Mich bewegt Elenas Ringen um Zugehörigkeit sehr. Aber ich denke, es liegt daran, dass es mir in manchen Teilen ähnlich geht.« – Frau Hemingway

»Zum Abschluss gibt es den bereits aus den beiden Vorgänger-Bänden bekannten Cliffhanger, der die Neugierde auf den Folgeband und damit den Abschluss der Saga spürbar verstärkt.« – Zeichen & Zeiten

»Die Autorin macht es einem eben nicht leicht, sondern verlangt einem als Leser ein gewisses Maß an Durchhaltevermögen und Energie ab – genau das macht diese Reihe einfach so besonders und genau deswegen habe ich keine Ahnung, was mich im letzten Band erwarten wird.« – Miss Naseweiss

Die Reihe

Meine geniale Freundin | Die Geschichte eines neuen Namens | Die Geschichte der getrennten Wege | Die Geschichte des verlorenen Kindes


Über die Autorin

Elena Ferrante ist die grosse Unbekannte der Gegenwartsliteratur. In Neapel geboren hat sie sich mit dem Erscheinen ihres Debütroman im Jahr 1992 für die Anonymität entschieden. Ihre vierbändige Neapolitanische Saga besteht aus Meine geniale FreundinDie Geschichte eines neuen NamesDie Geschichte der getrennten Wege und Die Geschichte des verlorenen Kindes. Diese Bücher erschienen in 50 Ländern und haben sich millionenfach verkauft. (Quelle: Buchumschlag)

Die Rechte am gezeigten Cover sowie den zitierten Textstellen liegen beim genannten Verlag.

 

24 Antworten zu “Rezension | Elena Ferrante – Die Geschichte der getrennten Wege”

  1. Hallo Daniela,

    mir gefallen Deine Rezensionen der Elena Ferrante sehr. Bin nun auch gespannt auf den letzten der vier. Da ich selbst sehr intensiv in Neapel, mit den Menschen auf den Straßen gelebt habe, kenne ich fast alle Schauplätze und auch die Mentalität ist mir nicht mehr ganz so fern. Ganz werde ich die Neapolitaner wohl nie verstehen, aber das ist eine andere Geschichte. Ich fand die drei Bände bisher sehr lesbar und authentisch. Man wird ja quasi in die Erzählung hineingesaugt. Was mir auch im dritten Buch immer noch nicht gelungen ist: weder Lila noch Elena sind mir sympathisch geworden. Im Gegenteil!

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    • Hallo Erika,
      Ja, die beiden Protaginistinnen sind nicht grade zwei Sympathieträger, da gebe ich dir absolut recht. Aber das beweist ja auch nur, dass ein Buch nicht unbedingt sympathische Protagonisten braucht, um absolut lesenswert zu sein.
      Und wenn man wie du, die Schauplätze auch noch kennt und selbst gesehen hat, dann ist die Lektüre wohl noch einmal etwas spezieller.

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  2. Okay, okay, okay. Es ist soweit: Jetzt will ich die Bücher auch lesen!
    Danke liebe Daniela, für deine tolle Rezension! Ich bin den Büchern ja schon fast mit Absicht aus dem Weg gegangen, ich kann mich einem Hype einfach nicht wirklich anschließen ( auch wenn die Bücher tatsächlich sehr gut sind). Ich warte da immer lieber noch eine ganze Weile. Aber, jetzt ist es eben soweit :D

    Liebe Grüße,
    Pia!

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  3. Hallo Daniela!

    Schade, dass deine Rezension nicht ewig weitergeht. Ich hab mich sofort in die Geschichte gezogen gefühlt. Von der Familiensaga habe ich schon viel positives gehört. Ich denke, jetzt werde ich nochmal einen genaueren Blick auf den ersten Teil werfen. Deine Bilder zeigen auch, dass die drei Bänder im Regal bestimmt wunderschön aussehen.

    Liebe Grüße
    Sabrina

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    • Hallo Sabrina,
      und wie toll die im Regal aussehen! <3 Der vierte Band reiht sich da übrigens auch ganz wunderbar mit ein.
      Der erste Teil fand ich leider mit am schlechtesten von allen dreien, von Buch zu Buch wird die Geschichte aber packender.
      Grüessli, Daniela

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  4. Hallo Daniela, ich lese jetzt demnächst Band 3 und 4 in einem Rutsch und freue mich schon sehr. Danach darf ich dann auch deine interessant aussehenden Besprechungen lesen. Ich schaue jetzt mal bei Band 1, den kenne ich schon. Viele Grüße, Petra

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  5. Hi Daniela,
    danke für die schöne Rezension! Deine hervorgehobenen Zitate waren auch meine Lieblingszitate. :-) Besonders, wie Elena feststellt, dass sie sich zu sehr „vermännlicht“ hat. Sehr interessant fand ich auch Elenas „Abhandlung“ darüber, wie Männer Frauen nach ihrem Vorbild erschaffen und wie das ein Wendepunkt ist auf ihrem Weg, eine eigene Identität zu finden.
    Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber zu Anfang der Saga fand ich Lila immer interessanter als Elena, jetzt aber gar nicht mehr, gerade aufgrund dieser Identitätskrisen, die sie erlebt!
    Ich bin gespannt, wie es weiter geht! Ich hab die „Geschichte des verlorenen Kindes“ schon gekauft, hatte aber noch nicht die Zeit, es zu lesen.
    LG, Sabine

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    • Lieben Dank!
      Der vierte Band steht auch schon in meinem Regal, allerdings brauche ich einen Moment Ferrante-Pause :)

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  6. Schöne Rezension, Daniela! Mir gefällt übrigens auch sehr das Layout deines Blogs und deiner einzelnen Rezensionen. Alles ist schön klar und übersichtlich, kein Schnickschnack, die Zitate sind schön eingebunden, die anderen Stimmen zum Buch finde ich hübsch gemacht und die Art und Weise, wie du auf die anderen Bände verweist, finde ich auch gelungen. Hier komme ich jetzt öfters vorbei :-)

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    • Vielen Dank liebe Romy!
      Es freut mich, dass dir meine Rezensionen gefallen und sie dir Lust machen, das Buch zu lesen.
      Ich komme heute Abend gerne auf einen Gegenbesuch bei dir vorbei, jetzt bin ich grad im Schrebergarten in der Hängematte und geniesse den Sonnenschein.
      Liebe Grüsse, Daniela

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      • Viel Spaß! Ich habe dir auch schon auf deine Kommentare auf meinem Blog geantwortet, aber bei mir kann man keine Kommentare abonnieren, d.h. du erfährst nicht automatisch, dass ich dir geschrieben habe… Mal schauen, ob ich das wieder ändere…

        Liebe Grüße!

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      • Ach herrje! Jetzt war ich richtig verwirrt, weil ich deinen Benutzernamen nicht kannte und ihn so nicht mit deinem Blog in Verbindung gebracht habe.. :) Ich komme trotzdem gerne noch einmal bei dir vorbei.
        Grüessli, Daniela

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  7. Hallo Daniela,
    schöne Rezension nach der ich am liebsten sofort mit dem lesen beginnen würde! Die ersten beiden Bände habe ich bereits gelesen und hatte erst einmal eine kleine Ferrante-Pause eingelegt. Jetzt will ich aber unbedingt den dritten Teil lesen!

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    • Hallo Vera,
      das ging mir aber auch immer so. Nach jedem Band brauchte ich eine Ferrante-Pause.
      Grüessli, Daniela

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